Mit einer beeindruckenden Lesung aus seinem Jugendroman „Über die Berge und über das Meer“ ist es dem Münsteraner Autor Dirk Reinhardt gelungen, die versammelte Jahrgangsstufe 8 des Jakob-Brucker-Gymnasiums zu fesseln.
„Niemand verlässt seine Heimat aus Jux und Tollerei“, stellt Integrationslotsin Cornelia Paulus vom Kaufbeurer AK Asyl einleitend fest, womit Flucht als Veranstaltungsthema benannt – und ein stets wiederkehrendes Missverständnis zu den Ursachen derselben entkräftet ist. Die Moderatorin selbst zeichnet wesentlich dafür verantwortlich, dass das JBG an diesem 30. Mai zur Bühne für eine Lesung, ja mehr noch zum Erfahrungsort wird. Wie sehr sie mit ihren einleitenden Worten den Nagel auf den Kopf trifft, beweist die Handlung des im weiteren Verlauf dargebotenen Romans: Auch Soraya und Tarek, die aus Afghanistan stammenden Hauptfiguren in Dirk Reinhardts Erzählung, fliehen nicht, um woanders Luxus und Überfluss zu finden. Einzig der Wunsch, am Leben zu bleiben, treibt sie an. Begleitet werden sie an diesem Vormittag von über 120 Schülerinnen und Schülern des JBG, die sich dank des anschaulichen Vortrags in ihre Situation hineinversetzen können. Immer wieder erfährt das Publikum Wesentliches über die Herkunft von Tarek und Soraya, es begegnet den Bedrohungen, etwa durch die Taliban, als wäre es selbst Teil der Geschichte. Alle Anwesenden fiebern mit, man spürt, wie sehr der Autor seine Zuhörerschaft begeistern kann. Dass Dirk Reinhardt hier ein zentrales Thema seines Gesamtwerks entfaltet, erweist sich überdies als Trumpf. Schon mit „Train Kids“ hat er sich auf die Spuren fliehender, in vielfacher Hinsicht bedrängter Jugendlicher begeben und so manche Schulklasse der Republik fürs Lesen und die Literatur begeistert. Dies gelingt ihm auch mit seinem neuen Roman spielend, was nicht zuletzt am sympathisch-authentischen Auftritt des Autors liegt. Auf die Schülerfrage, wie er seine literarischen Stoffe gewinne, berichtet er nicht nur von intensiven Studien und Recherchen, sondern eben auch von persönlichen Begegnungen mit jenen, die geflohen sind und Bedrohungen aller Art überlebt haben. Auf diese Weise trägt Reinhardt dazu bei, einen in der Öffentlichkeit bis zur Verzerrung abstrahierten Diskurs an greifbare Schicksale rückzubinden und gleichsam den Aspekt der Menschlichkeit in den Fokus zu rücken. So geschieht die bitter nötige Objektivierung eines ideologisch überladenen Themenfelds ausgerechnet auf dem Wege literarischer Fiktion, was ein zentrales Verdienst Reinhardts ist. Wie sehr er sein Publikum erreicht, bezeugen schließlich die Bitten der Anwesenden, man solle den Roman künftig noch häufiger als Schullektüre behandeln.
Thomas Wilm